type | report |
booktitle | Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Band I |
author | Theodor Fontane |
year | 1998 |
publisher | Aufbau Verlag |
address | Berlin |
isbn | 3-7466-5291-X |
title | Wanderungen durch die Mark Brandenburg |
created | 19990616 |
sender | gerd.bouillon@t-online.de |
firstpub | 1880 |
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3. Groß Rietz
Eine halbe Stunde später verabschiedeten wir uns und fuhren aus dem unwirtlichen Pieskow, in dem nicht mal mehr ein Grabstein von besseren Zeiten redete (wenn es bessere Zeiten waren), in die sandig hügelige Feldmark hinaus.
»Hören Sie, Moll«, hob ich an, »das war 'ne forsche Frau.«
»Woll, forsch war sie. Man bloß zu sehr, un eigentlich wütig; un nahm ja gar keine Raison an.«
»Ja, hören Sie, das sagen Sie wohl; Sie sind ein behäbiger Mann. Aber solch armes Volk, das jeden Tag seine Not fühlt, das wird eben wütend und mucksch und starrt vor sich hin. Übrigens lassen wir's, und sagen Sie mir lieber, was ist das mit dem alten Emeritus? Der pieskowsche Lehrer konnte ja gar nicht von ihm los. Ist er denn noch bei Wege?«
»Freilich. Und wir kommen sogar an dem kleinen Hause vorbei, das er sich aus Feldstein hat aufmauern lassen. Und hat selber mitgeholfen. Und wenn ich es so liegen seh in Kapperfolium und Efeu, muß ich immer an Robinson und Freitag denken.«
»Und da wohnt er? Und ist schon sehr alt?«
»Sehr alt und weiß alles. Er hat noch den Kaiser Napoleon gesehn, als er aus Rußland kam, und als Studente war er mit in Griechenland und ist auch mal mit in die Luft geflogen. Aber sie haben ihn wieder 'rausgefischt. Und ich hab ihn öfter sagen hören:›Ein jeder hat so sein Schicksal, und wer Pastor in Pieskow werden soll, an den kann kein Türke 'ran. Und Feuer und Wasser auch nich.‹«
»Ei, das muß ja ein reizender alter Herr sein, und wohl sehr aufgeklärt und freisinnig. Oder vielleicht auch ein bißchen zu sehr. Ist es so was? He?«
Moll lächelte vor sich hin und schien ausdrücken zu wollen: auf eine so feine Frage laß ich mich nicht ein.
Eine kleine Weile danach erreichten wir einen Wald, über dessen schmalen Fahrweg von rechts und links her eine Menge Wurzelwerk gewachsen war. Das gab nun ein entsetzliches Geholper und Gestolper, und ich flog hin und her, aber ich freute mich doch, aus Wind und Sonne heraus zu sein.
Es waren hochstämmige Kiefern und Tannen gewesen, womit der Wald begonnen hatte; bald aber kam Laubholz und inmitten desselben eine moorige Lichtung, auf deren höher gelegenen Stellen allerlei vertrocknete Büsche von Besen- und Heidekraut standen. Auch Elsen- und Birkenholz lag hier in Klaftern am Wege hin, und auf einer dieser Klaftern, die schon bis auf wenige Kloben abgefahren war, saß ein alter Herr mit Käpsel und Starbrille, neben sich ein Kind, eine zehnjährige Kleine, während ein großer Bastard-Neufundländer, dem die Schäferspitzkreuzung noch ein Erhebliches an Intelligenz und Entschlossenheit zugelegt hatte, zu Füßen beider sich ausstreckte. Die Kleine war reizend und schien dem Alten etwas zuzuflüstern.
Als wir vorüber waren, sagte Moll mit halblauter Stimme: »Das war er.«
»Wer?«
»Nu, der Emeritus. Er geht hier öfter...«
Aber eh er noch aussprechen konnte, war ich schon vom Sitz herunter und lief die paar Schritt zurück, um dem Unbekannten und doch bereits so Bekannten unter Entschuldigungen über meine Zudringlichkeit einen Platz auf dem Wagen anzubieten, immer vorausgesetzt, daß er denselben Weg mit mir habe.
»Danke«, sagte der Alte. »Das Aufsteigen ist mir zu schwer und zu gefährlich; ich sehe schlecht, und die scharfe Brille hilft auch nicht viel. Aber die Beine sind noch in Ordnung. Ist es Ihnen recht, so gehen wir ein Stück zusammen und plaudern ein bißchen. Ich plaudere gern. Irme steigt auf den Bock, das Kind kennt nichts Lieberes, und wir marschieren auf dem Fahrdamm hinterher.«
Er schien meine Zustimmung als selbstverständlich vorauszusetzen, erhob sich also und nahm meinen Arm, und als gleich danach auch Irme zu dem artig beiseite rückenden Moll hinaufgeklettert war, setzte sich unser Zug in eine langsame Bewegung. Eine Fühlung zwischen dem Emeritus und mir war rasch gewonnen, und so nannt ich ihm meinen Namen und den Zweck meiner Fahrt.
»Ach, das freut mich, daß jemand in unsere wenig gekannte Gegend kommt. Es ist ein eigen Land, ich kenn es und lieb es und möcht es für die Tage, die mir noch beschieden, mit keinem andern vertauschen; aber es ist arm und unfruchtbar in jedem Betracht und ich fürchte fast, daß es auch an Historischem Ihnen nicht viel herausgeben wird.«
»Es ist leider, wie Sie sagen. Ich war ein paar Stunden in Pieskow und dachte da wenigstens von den Löschebrands allerlei zu hören. Aber die Gruft ist zugeschüttet, und die Grabsteine sind fort. Und es muß doch seinerzeit eine berühmte Familie gewesen sein.«
»Gewiß, gewiß, und ich habe sie selber noch in guten Umständen gekannt, wenigstens unsre pieskowsche Linie, trotzdem es schon auf die Neige ging. Und das alles seit Anno 93.«
»Ei, das klingt ja gerad, als ob wir in Frankreich wären. In Frankreich, wie Sie wissen, datiert alles von quatre-vingttreize. Steht es damit in irgendeinem Zusammenhange?«
»Nicht in dem geringsten. Es handelt sich bei diesem Anno 93 um nichts mehr und nichts weniger als um die pieskowsche Glocke, von der eine alte Prophezeiung sagte: ›Solange die klingt, so lange dauert der Löschebranden Glück.‹ Und die Prophezeiung hielt auch Wort und die Löschebrands waren nicht bloß die Herren hier um den Schermützel herum, sie waren auch große Herren überhaupt und galten bei Hof und waren versippt und verschwägert mit allem, was reich und vornehm im Lande war. Ihr Liebstes aber war der ›Dienst‹, und weil es immer schöne, stattliche Leute waren, so waren ihnen auch die schönsten und stattlichsten Regimenter immer nur gerade gut genug, und alles, was als Löschebrand in der saarow-pieskowschen Taufliste stand, stand zwanzig Jahre später in der Rangliste der Garde du Corps und Gensdarmes. Es waren echte Junkers, eigensinnig und hochmütig, und ließen die Leute reden, und trotzdem sie nach Sitte jener Zeit über ihre Mittel hinaus lebten und eine wunderliche Wirtschaft führten, erhielten sie sich doch in einem guten und zuletzt wenigstens in einem leidlichen Vermögenszustande, weil sich in alten Familien immer wieder was zusammenerbt.«
»Aber freilich...«
»... Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und als Pfingsten 93 kam und am Abend vorher das Fest eingeläutet werden sollte, da klapperte die Glocke, die beim Volke seit lange nur ›der Löschebranden Glück‹ hieß und sieben Menschenalter lang über den Schermützel hin geklungen hatte. Das gab nun ein Kopfschütteln im Dorf und allerlei Sorg und Furcht im Schloß, aber Sorg und Furcht konnte den Spuk nicht bannen, und obwohlen der alte Gottlob Ernst von Löschebrand, der erst Anno 19 starb und den ich selber noch gekannt habe, die Glocke mit sechs Pferden und einer schwarzen Decke darüber (als ob es ein Leichenzug wäre) nach Berlin fahren und einen frommen Spruch mit eingießen ließ – einen frommen Spruch, an den er nicht recht glaubte –, so war es doch von dem Tag an vorbei mit der ›Löschebranden Glück‹ und ist seitdem auch nicht mehr aufgekommen.«
All die Zeit über war mir der Neufundländer unausgesetzt zur Seite gewesen und nur ein paarmal bis an den Wagen vorgesprungen, um nach Irme zu sehn. Der Emeritus aber öffnete mir immer mehr das Schatzkästlein seiner Erinnerungen, und als er hörte, daß ich zunächst nach Groß Rietz wollte, riet er mir, bei seinem alten Freunde, dem Kantor, vorzusprechen und ihm Grüße zu bringen, »der werde mir mit Rat und Tat behilflich sein und mir zeigen, was zu zeigen sei«.
Dabei waren wir aus dem Walde heraus und bis in die Front eines etwas zurück gelegenen und hinter Efeu halb versteckten Steinhäuschens gekommen, über dessen Heckenzaun fort ein kleiner Pfirsichbaum blühte.
»Wie schön«, sagt ich. »Wem gehört dies Idyll an der Heerstraße?«
Der Alte lächelte vor sich hin. »Es wird wohl das des alten Emeritus sein.« Und wirklich, es war es.
Eine Minute später schritten Großvater und Enkelin auf das Häuschen zu. Der Neufundländer folgte, verstimmt über die zu rasch abgebrochene Bekanntschaft. Irme drehte sich noch einmal um und nickte; dann verschwanden alle drei hinter dem Heckenzaun, und Moll und ich waren wieder allein.
»Er ist auch nur arm«, sagte mein Philosoph in ernster Betrachtung. »Und dabei neunundsiebzig. Es is doch eigentlich eine traurige Geschichte.«
»Warum? Er sah ja nicht traurig aus. Ganz und gar nicht. Aber Sie sind ein Mammonsjäger, Moll; Ihr drittes Wort ist immer Geld, und da kann ich schließlich nicht mehr mit. Ich hab Ihnen heute früh recht gegeben, aber Sie gehen ja viel zu weit und vergessen, daß ein Unterschied ist zwischen Pauvresein und Armsein. Armsein ist nicht so schlimm. Achten Sie mal darauf, immer die, denen das Leben das Leben schwer macht das sind die Tüchtigsten und Klügsten. War nicht die pieskowsche Wirtin eine kluge Frau?«
»Ja, ja.«
»Nun sehen Sie, so viel Schneid ist immer nur bei der Armut. Die Not lehrt beten, sagt das Sprüchwort, aber sie lehrt auch denken, und wer immer satt ist, der betet nicht viel und denkt nicht viel.«
»Ich bin aber doch lieber satt.«
»Ehrlich gestanden, ich auch. Darin stimmen wir nun wieder zusammen. Aber es ist doch auch was mit der Armut, oder wenn man so will, sie hat auch ihre Vorzüge.«
»Man bloß nich viele...«
»Nein, viele nicht. Aber doch welche. Sehen Sie, Sie haben viel gelesen und sind eigentlich, wenn es nicht grad Ihre schwache Stelle trifft (Sie wissen schon, welche), für einen gebildeten Fortschritt. Und nun frag ich Sie, wo säßen wir noch und wo wären wir noch, wenn es keine Not in der Welt gäbe. Die Not ist der große Treiber oder der eigentliche ›Motor‹, wie manche sagen, und daß ich hier jetzt mit Ihnen herumkutschiere trotz Ostwind und dieser Stichsonne (fühlen Sie mal, wie mir die Haut schon abschülbert), ist eigentlich auch bloß aus Not.«
»I nu ja, man kann es auch so sagen. Aber ich bin doch mehr fürs Amöne. Sehen Sie den hübschen Turm da vor uns? Das ist Groß Rietz; da kann man doch wieder ein Glas Bier kriegen und ein Rührei mit Schinken.«
»Und da finden wir auch was in Schloß oder Kirche. Ja, Sie lachen, Moll, und denken: ›Ach, das sagt er schon den ganzen Tag‹; aber Sie sollen sehen, hier gibt es was. In Groß Rietz nämlich hat der Minister Wöllner gewohnt, freilich erst, als er in Ungnade gefallen war, und ist auch bald nachher gestorben. Wer in Ungnade fällt, heißt es, der lebt nicht mehr lange. Nu, mir könnt es nicht passieren; In-Ungnade-Fallen und Pensioniertwerden ist eigentlich immer mein Ideal gewesen. Aber der eine denkt so und der andre so... Haben Sie schon mal von dem Minister Wöllner gehört?«
»Nein. Wer war er denn? Ich habe bloß noch von die Manteuffels gehört. Und einer hieß der kleine Manteuffel. Es muß also wohl schon vorher gewesen sein.«
»O lange vorher. Er war Minister bei Friedrich Wilhelm II. oder, wie die Leute sagen, beim dicken König. Und sie sagen auch, er hätt ihm immer Hokuspokus vorgemacht und Geister und Gespenster, und alles immer mit Weihrauch und Glasharmonika. Na, vielleicht war es nicht so schlimm. Und das können Sie glauben, Moll, er war gescheiter als manche, die jetzt über ihn lachen. Is auch gar nicht zu verwundern. Denn wie ging es denn? Erst war er bloß Hauslehrer und soll auch ein paarmal gepredigt haben, und noch dazu ganz gut; aber zuletzt dacht er doch wohl, ›es käme nicht viel dabei heraus‹, und heiratete lieber ein junges Fräulein von Itzenplitz. Auch die Mutter, heißt es, war ihm nicht unhold. ›Nicht unhold‹ darf man am Ende sagen und ist ein statthafter Ausdruck. Und als er nun das junge Fräulein geheiratet hatte (die Mutter nahm es alles in die Hand), da wurd er Minister und regierte den preußischen Staat. Und das kann doch schließlich nicht all und jeder.«
Ich hatte hierbei Molls unbedingte Zustimmung erwartet, aber diese blieb aus, und während er es vorzog, hin und her zu diplomatisieren, fuhren wir bereits in Groß Rietz ein und hielten alsbald vor einem Häuschen, das uns als das des Herrn Kantors bezeichnet worden war.
Ich stieg ein paar Stufen hinauf bis in den Flur und wollte klopfen, aber ein Choral, der eben auf einem kleinen Klavier gespielt wurde, hielt mich davon ab. Endlich schwieg es drin, und ich trat ein.
Ein alter würdiger Herr empfing mich und hörte wohlwollend, aber verlegen meinem Vortrage zu, was mich schließlich selber verlegen machte. So sehr, daß ich, wie gewöhnlich in solcher Lage, vom Hundertsten aufs Tausendste kam. In diesem Momente höchster Bedrängnis erschien die Frau Kantorin und sah mit dem den Frauen eigenen Scharfblick auf der Stelle, daß es sich hier unmöglich um etwas Bedenkliches handeln könne. Sie lud mich also zum Sitzen ein, was seitens ihres Mannes noch nicht geschehen war, und stellte nun ihre Fragen so geschickt und so freundlich, daß ich mich rasch wieder zurechtfand. »Ich fürchte nicht, Ihre Zeit allzulang in Anspruch nehmen zu müssen, eine Stunde, wenn's hoch kommt. Ohnehin hängt die Sonne schon über den Dächern drüben, und wenn wir auch Mondschein und sogar Vollmond haben, so lassen sich doch alte Bilder in solcher Beleuchtung nicht allzu gut studieren, die Fenster mögen so hoch und breit sein, wie sie wollen. Oder irr ich mich, wenn ich annehme, daß sich die beiden Wöllner-Portraits in Ihrer Kirche befinden?«
»Eines war in der Kirche, das in roter Uniform. Aber der Herr von der Marwitz hat es, als er das letzte Mal hier war, ins Schloß bringen lassen, und da hängen sie nun alle zusammen.«
»Ich wußte nur von zweien.«
»Ja, zwei Wöllner-Bilder... Ede, du könntest ins Schloß gehen und um den Saalschlüssel bitten; es wär ein Herr da, der die Bilder sehen wollte... Ja, zwei Wöllner-Bilder, eines als Minister und eines aus seiner Hauslehrerzeit, als er noch in Groß Behnitz war. Ach du lieber Himmel, Groß Behnitz! Wie sich doch alles ändert im Leben. Das war das Itzenplitzische Lieblingsgut, und nun hat es Borsig, und der hat es auch nicht mehr, und ist bloß noch Sommersitz und Villa für seine Witwe. Kennen Sie Groß Behnitz?«
Ich nickte.
»Das also sind die beiden Wöllner-Bilder. Und auf dem zweiten, in einem Talar oder Roquelaure, sieht er eigentlich aus, als ob er ein Beichtvater wär oder sonst was Katholisches. Und auch sehr hübsch. Es sind aber außerdem noch zwei Bilder da, die mit dazu gehören, zwei Frauenbilder, und die Leute sagen, das eine sei die Frau Generalin von Itzenplitz, die ja so große Stücke von ihm hielt, und das andre sei das Fräulein von Itzenplitz (die Tochter der Gnädigen), die dann der Hauslehrer Wöllner, oder vielleicht war er auch schon Domainenrat, geheiratet hat. Aber da kommt Ede. Bringst du die Schlüssel?«
»Nein. Aber es sei schon gut. Und der Herr solle nur kommen.«
Auf diese Zusage hin erhoben wir uns, die Frau Kantorin und ich, und gingen nunmehr auf das Schloß zu, das mir seiner großen Renaissancetreppe nach aus der Zeit König Friedrichs I. zu stammen schien. Ein Diener wartete schon und schloß einen Hochparterresaal auf, aus dessen Fenstern ich einen Blick auf einen von Treibhäusern eingefaßten Garten hatte. Dieser Blick war hübsch, aber der Saal selber zeigte nichts als eine Stehuhr, eine Portraitbüste Friedrich Wilhelms II. und jene vier Bilder, über die mir die Frau Kantorin einen vorläufigen kurzen Bericht gegeben hatte.
Der letzte Glutschein der untergehenden Sonne fiel auf drei Bilder; das vierte (kleinere) hing an einer Schmalwand unmittelbar daneben und war das Wöllner-Bild aus seiner Ministerzeit. Er trägt auf demselben gepudertes Haar, einen roten Uniformrock und einen blauen, mit Silber gestickten Kragen. Ebensolche Rabatten und Aufschläge. Die Nase dicklich, die Lippen wulstig, die Augen groß und hervortretend. Alles in allem entschlossen und charaktervoll, aber ohne Wohlwollen.
Auf diesem kleineren Portrait ist er ein mittlerer Fünfziger, auf dem größeren, im rechten Winkel daneben hängenden aber erscheint er als ein jugendlicher und in der Tat schöner abbéhafter Mann, wie man ihnen auch heute noch innerhalb der katholischen Geistlichkeit in Östreich und Süddeutschland zu begegnen pflegt. Er zeigt sich, seinen damaligen Studien entsprechend, mit einem Mikroskop beschäftigt, zwischen dessen Gläser er eben einen zu beobachtenden Gegenstand gelegt zu haben scheint. Eine Verwandtschaft zwischen den beiden Bildern ist unverkennbar: derselbe sinnliche Mund, dazu dieselben großen Vollaugen. Und doch, welch ein Unterschied! Auf dem Ministerportrait alles abstoßend, hier alles anziehend bis zum Verführerischen. Dazu gut und, soweit meine Kenntnis reicht, in einzelnen Partien sogar vortrefflich gemalt. Von welcher Hand, würde sich durch Kunstverständige leicht feststellen lassen, da, nach Antoine Pesnes Tode, wohl nur wenige Maler in Berlin existierten, die so zu malen imstande waren.
Die beiden Itzenplitzischen Frauenportraits, die dieselbe Wand schmücken, sind in Ausdruck und Vortragsweise nur Durchschnitt. Alles Interesse verbleibt also ihm, und wer die Geschichte dieses vielfach verkannten und unterschätzten Mannes dermaleinst zu schreiben gedenkt, wird an diesen Groß-Rietzer Bildnissen nicht vorübergehen dürfen. Sie lehren uns manches in seinem Leben und Charakter verstehn.
Inzwischen war die Sonne gesunken, und als wir jetzt aus dem Saal auf die große Freitreppe hinaustreten, stand der Vollmond bereits in aller Klarheit am Himmel. Ihn als Leuchte zur Seite, gingen wir auf die nah gelegene Kirche zu, hinter deren Fenstern ich ein paar Epitaphien und Trophäen in ihrem flimmernden Schmucke von Waffen und Goldbuchstaben erkannte. Dieser flimmernde Schmuck aber war nicht das, was meine Schritte hierher gelenkt hatte, vielmehr hielt ich mich jetzt auf die Mitte des Kirchhofs zu, wo, von einer Gruppe von Ahornplatanen umstellt, ein großer Granit, ein Doppelgrabstein lag, auf dem einfach die Namen standen: »J. C. von Wöllner und C. A. C. von Wöllner, geborne von Itzenplitz«. Sonst nichts, weder Spruch noch Inschrift. Um die Stätte her war braunes Laub hoch zusammengefegt und predigte wie der Stein selber von der Vergänglichkeit irdischer Dinge.
Moll war uns auf den Kirchhof gefolgt. Er schien einen Augenblick zu Reflexionen in dem eben angedeuteten Sinne geneigt, gab es aber doch auf und begnügte sich schließlich mit einer einfachen Wetterbetrachtung: »Ich dachte, der Wind würd uns einen Regen zusammenfegen. Aber es is nichts. Sehen Sie sich bloß den Mond an; er hat nich mal 'nen Hof und steht so blank da wie 'n Zehnmarkstück.«
»Es is richtig. Aber Moll, warum sagen Sie bloß Zehnmarkstück?«
»Jott, ich dachte, vor die Gegend...«
Und damit gingen wir auf das Gasthaus zu, wo mein Mammon- und Adelsfreund schon ein Zimmer für mich, und zwar »auf der rechten Giebelseite«, bestellt hatte.
»Gott, Moll, das ist ja die Mondseite.«
»Na, denn tauschen wir. Ich hab es gern, wenn er mir so prall aufs Deckbett scheint.«