type | tractate |
author | Carl von Clausewitz |
title | Vom Kriege |
sender | noname@abc.de |
firstpub | 1832 |
Navigation:
- Kapitel 94
- Kapitel 1
- Kapitel 2
- Kapitel 3
- Kapitel 4
- Kapitel 5
- Kapitel 6
- Kapitel 7
- Kapitel 8
- Kapitel 9
- Kapitel 10
- Kapitel 11
- Kapitel 12
- Kapitel 13
- Kapitel 14
- Kapitel 15
- Kapitel 16
- Kapitel 17
- Kapitel 18
- Kapitel 19
- Kapitel 20
- Kapitel 21
- Kapitel 22
- Kapitel 23
- Kapitel 24
- Kapitel 25
- Kapitel 26
- Kapitel 27
- Kapitel 28
- Kapitel 29
- Kapitel 30
- Kapitel 31
- Kapitel 32
- Kapitel 33
- Kapitel 34
- Kapitel 35
- Kapitel 36
- Kapitel 37
- Kapitel 38
- Kapitel 39
- Kapitel 40
- Kapitel 41
- Kapitel 42
- Kapitel 43
- Kapitel 44
- Kapitel 45
- Kapitel 46
- Kapitel 47
- Kapitel 48
- Kapitel 49
- Kapitel 50
- Kapitel 51
- Kapitel 52
- Kapitel 53
- Kapitel 54
- Kapitel 55
- Kapitel 56
- Kapitel 57
- Kapitel 58
- Kapitel 59
- Kapitel 60
- Kapitel 61
- Kapitel 62
- Kapitel 63
- Kapitel 64
- Kapitel 65
- Kapitel 66
- Kapitel 67
- Kapitel 68
- Kapitel 69
- Kapitel 70
- Kapitel 71
- Kapitel 72
- Kapitel 73
- Kapitel 74
- Kapitel 75
- Kapitel 76
- Kapitel 77
- Kapitel 78
- Kapitel 79
- Kapitel 80
- Kapitel 81
- Kapitel 82
- Kapitel 83
- Kapitel 84
- Kapitel 85
- Kapitel 86
- Kapitel 87
- Kapitel 88
- Kapitel 89
- Kapitel 90
- Kapitel 91
- Kapitel 92
- Kapitel 93
- Kapitel 94
- Kapitel 95
- Kapitel 96
- Kapitel 97
- Kapitel 98
- Kapitel 99
- Kapitel 100
- Kapitel 101
- Kapitel 102
- Kapitel 103
- Kapitel 104
- Kapitel 105
- Kapitel 106
- Kapitel 107
- Kapitel 108
- Kapitel 109
- Kapitel 110
- Kapitel 111
- Kapitel 112
- Kapitel 113
- Kapitel 114
- Kapitel 115
- Kapitel 116
- Kapitel 117
- Kapitel 118
- Kapitel 119
- Kapitel 120
- Kapitel 121
- Kapitel 122
- Kapitel 123
- Kapitel 124
- Kapitel 125
- Kapitel 126
- Kapitel 127
- Kapitel 128
- Kapitel 129
- Kapitel 130
- Kapitel 131
- Kapitel 132
- Kapitel 133
- Kapitel 134
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Schlüssel des Landes
Es gibt in der Kriegskunst keine theoretische Vorstellung, welche in der Kritik eine solche Rolle gespielt hat als diejenige ist, mit welcher wir uns hier beschäftigen. Sie ist das Paradepferd aller Schlacht- und Feldzugsbeschreibungen, der häufigste Standpunkt alles Räsonnements und eines von jenen Fragmenten wissenschaftlicher Form, womit die Kritik sich viel weiß. Und doch steht der damit verbundene Begriff weder fest, noch ist er je deutlich ausgesprochen.
Wir wollen versuchen, ihn deutlich zu entwickeln, und sehen, welchen Wert er für das praktische Handeln denn noch behalten wird.
Wir geben ihm diese Stelle, weil die Gebirgs- und Flußverteidigung sowie die Begriffe von festen und verschanzten Stellungen, an die er sich zunächst anschließt, vorausgegangen sein mußten.
Der unbestimmte, verworrene Begriff, welcher sich hinter dieser uralten militärischen Metapher versteckt, hat bald die Gegend bedeutet, wo ein Land am offensten, bald die, wo es am stärksten ist.
Wenn es eine Gegend gibt, ohne deren Besitz man es nicht wagen darf, in das feindliche Land einzudringen, so wird sie mit Recht der Schlüssel des Landes genannt werden. Allein diese einfache, aber freilich auch nicht sehr fruchtbare Vorstellung hat den Theoretikern nicht genügt, sie haben sie potenziert und sich unter Schlüssel des Landes Punkte gedacht, welche über den Besitz des Ganzen entscheiden.
Wenn die Russen in die Halbinsel der Krim vordringen wollten, so mußten sie sich zum Herrn von Perekop und seiner Linien machen, nicht sowohl um dadurch überhaupt den Eingang zu gewinnen, denn Lacy hat sie 1737 und 1738 zweimal umgangen, sondern um in der Krim sich mit leidlicher Sicherheit festsetzen zu können. Das ist sehr einfach, aber freilich gewinnt man dabei durch den Begriff eines Schlüsselpunktes eben nicht viel. Wenn man aber sagen könnte: wer die Gegend von Langres innehat, der besitzt oder beherrscht ganz Frankreich bis Paris hin, d. h. es hängt dann nur von ihm ab, es in Besitz zu nehmen, so wäre das offenbar etwas ganz anderes, etwas von einer viel höheren Wichtigkeit. Nach der ersten Vorstellungsart kann der Besitz des Landes nicht ohne den Besitz des Punktes, den wir Schlüssel nennen, gedacht werden, das begreift sich mit bloßem gemeinem Verstande; nach der zweiten Vorstellungsart aber kann der Besitz des Punktes, den man Schlüssel nennen will, nicht gedacht werden, ohne daß der Besitz des Landes daraus folgt, das ist offenbar etwas Wunderbares; dazu reicht gemeiner Verstand nicht mehr hin, es ist die Magie geheimer Wissenschaft nötig. Und diese Kabbala hat wirklich vor etwa 50 Jahren in Büchern ihre Entstehung genommen, am Ende des vorigen Jahrhunderts ihren Kulminationspunkt erreicht, und hat trotz der überwältigenden Kraft, Sicherheit und Klarheit, womit die Kriegsgeschichte unter Bonapartes Führung die Überzeugungen fortriß, - wir sagen, jene Kabbala hat demungeachtet ihr zähes Judenleben in den Büchern noch an einem dünnen Faden fortzuspinnen gewußt.
Daß, wenn wir unseren Begriff des Schlüsselpunktes verlassen wollen, es in jedem Lande auch noch Punkte von vorherrschender Wichtigkeit gibt, in welchen sich viele Straßen vereinigen, in welchen man seine Unterhaltsmittel bequem vereinigen, von welchen aus man bequem hier- oder dorthin sich wenden kann, kurz, durch deren Besitz man mancherlei Bedürfnisse befriedigt, mancherlei Vorteile gewinnt, das versteht sich von selbst. Wenn nun die Feldherren die Wichtigkeit eines solchen Punktes mit einem Worte haben bezeichnen wollen und ihn deshalb Schlüssel des Landes genannt haben, so wäre es eine Pedanterie, daran einen Anstoß zu nehmen, vielmehr hat der Ausdruck dann viel Bezeichnendes und Gefälliges. Wenn man aber aus dieser Blume des bloßen Stils einen Kern machen will, aus dem sich ein ganzes System mit mannigfaltigen Verzweigungen wie ein Baum entwickeln soll, so fordert man den gesunden Menschenverstand heraus, den Ausdruck auf seinen wahren Wert zurückzuführen.
Von der praktischen, aber freilich sehr unbestimmten Bedeutung, welche der Begriff eines Schlüssels des Landes in den Erzählungen der Feldherren hat, wenn sie von ihren Kriegsunternehmungen sprechen, mußte man zu einer bestimmteren, also einseitigeren übergehen, wenn man ein System daraus entwickeln wollte. Man wählte unter allen Beziehungen die der hohen Gegend.
Wenn eine Straße einen Gebirgsrücken durchschneidet, so dankt man dem Himmel, wenn man auf dem höchsten Punkt angelangt ist, und es nun an das Hinabsteigen geht. Dies ist schon beim einzelnen Reisenden der Fall, noch mehr bei einem Heere. Alle Schwierigkeiten scheinen überwunden und sind es auch meistens wirklich; das Hinuntersteigen ist ein Leichtes, man fühlt sein Übergewicht über jeden, der es uns verwehren wollte, man übersieht das ganze Land vor sich und beherrscht es mit dem Blick im voraus. So ist stets der höchste Punkt, den eine Straße beim Durchzug eines Gebirges gewinnt, als der entscheidende betrachtet worden; er ist es auch in der Mehrheit der Fälle wirklich, aber er ist es keineswegs in allen. Solche Punkte sind also sehr häufig von den Feldherren in ihren Geschichtserzählungen mit dem Namen von Schlüsselpunkten, freilich wieder in einem etwas anderen Sinn und meistens in beschränkter Beziehung genannt worden. An diese Vorstellung hat die falsche Theorie, als deren Gründer vielleicht Lloyd zu betrachten ist, vorzugsweise angeknüpft und deshalb diejenigen hohen Punkte, von welchen mehrere Straßen in das zu betretende Land hinabsteigen, als die Schlüsselpunkte dieses Landes angesehen, als Punkte, welche das Land beherrschen. Es war natürlich, daß diese Vorstellungsart mit einer ihr nahe verwandten, nämlich mit der einer systematischen Gebirgsverteidigung zusammenfloß, und daß die Sache dadurch noch weiter in das Illusorische hineingetrieben wurde; denn nun kamen noch eine Menge taktischer Elemente, auf welche es bei der Gebirgsverteidigung ankommt, ins Spiel, und so wurde denn bald der Begriff des höchsten Straßenpunktes verlassen und überhaupt der höchste Punkt des ganzen Gebirgssystems, also der Wasserteilungspunkt, für den Schlüssel des Landes angesehen.
Da nun um jene Zeit, nämlich in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, gerade bestimmtere Vorstellungen über die Bildung der Erdoberfläche durch den Spülungsprozeß verbreitet wurden, so bot die Naturwissenschaft in diesem geologischen System der Kriegsgeschichte die Hand, und nun war jeder Damm praktischer Wahrheit durchbrochen, und alles Räsonnement schwamm in dem illusorischen System einer geologischen Analogie. Daher hörte man am Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder vielmehr man las von nichts als der Quelle des Rheins und der Donau. Freilich hat dieser Unfug meistens nur in Büchern geherrscht, wie denn immer nur ein kleiner Teil von der Bücherweisheit in die wirkliche Welt übergeht, und zwar um so weniger, je törichter sich die Theorie beträgt; allein die, von welcher wir sprechen, ist zum Schaden Deutschlands nicht ohne Einfluß auf das Handeln geblieben, wir kämpfen also nicht mit Windmühlen, und um dies zu beweisen, wollen wir an zwei Begebenheiten erinnern: erstens an die wichtigen, aber sehr gelehrten Feldzüge des preußischen Heeres 1793 und 1794 in den Vogesen, wozu die Bücher Grawerts und Massenbachs den theoretischen Schlüssel geben; zweitens an den Feldzug von 1814, wo ein Heer von 200000 Mann sich am Narrenseil dieser Theorie durch die Schweiz nach Langres führen ließ.
Ein hoher Punkt einer Gegend, von dem alle Wasser abfließen, ist aber meistens nichts als ein hoher Punkt, und alles, was man von seinem Einfluß auf die kriegerischen Ereignisse in Übertreibung und falscher Anwendung an sich wahrer Vorstellungen am Ende des achtzehnten und Anfange des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat, ist völlig phantastisch. Wenn Rhein und Donau und alle sechs Ströme Deutschlands einen Berg mit ihrem gemeinschaftlichen Ursprung ehren wollten, so würde er darum doch auf keine größere militärische Auszeichnung Anspruch haben, als etwa ein trigonometrisches Signal auf ihm zu errichten. Zu einem Fanal würde er schon weniger tauglich sein, für eine Vedette noch weniger und für ein Heer ganz und gar nicht.
Die Schlüsselstellung des Landes also in der sogenannten Schlüsselgegend, nämlich da zu suchen, wo die verschiedenen Gebirgsarme von einem gemeinschaftlichen Punkt ausgehen und die höchsten Quellen liegen, ist eine bloße Bücheridee, welcher schon die Natur selbst entgegensteht, die die Rücken und Täler von oben herab nicht so zugänglich macht wie die bisherige sogenannte Terrainlehre, sondern Kuppen und Einschnitte nach Gefallen ausstreut, und die nicht selten den niedrigsten Wasserspiegel mit den höchsten Massen umgibt. Wenn man die Kriegsgeschichte hierüber befragt, so wird man sich überzeugen, wie wenig regelmäßigen Einfluß die geologischen Schlußpunkte einer Gegend auf den kriegerischen Gebrauch derselben haben, und wie sehr andere Örtlichkeiten und andere Bedürfnisse überwiegen, so daß die Stellungslinien oft ganz an jenem Punkte hinlaufen und doch nicht von ihm angezogen werden.
Wir verlassen diese falsche Vorstellung, bei der wir nur so lange verweilt haben, weil sich ein ganzes vornehmes System daran geknüpft hat, und kehren zu unserer Ansicht zurück.
Wir sagen also: wenn der Ausdruck Schlüsselstellung in der Strategie einem selbständigen Begriff entsprechen soll, so kann es nur der einer Gegend sein, ohne deren Besitz man nicht wagen darf, in ein Land einzudringen. Will man aber damit auch jeden bequemen Eingang in ein Land oder jeden bequemen Zentralpunkt in demselben bezeichnen, so verliert die Benennung ihren eigentümlichen Begriff, d. h. ihren Wert und bezeichnet etwas, was sich mehr oder weniger überall finden muß; sie wird dann bloß eine gefällige Redefigur.
Jene Stellungen aber, welche wir uns dabei denken, sind dann freilich selten genug zu finden. Meistens liegt der beste Schlüssel zum Lande im feindlichen Heer, und wo der Begriff der Gegend über den Begriff der Streitkraft vorherrschen soll, müssen schon besonders günstige Bedingungen obwalten, und diese lassen sich nach unserer Meinung in zwei Hauptwirkungen erkennen: erstens, daß die darin aufgestellte Streitkraft durch den Beistand des Bodens eines starken taktischen Widerstandes fähig sei; zweitens, daß die Stellung früher die Verbindungslinie des Feindes wirksam bedrohe, als die eigene von ihm bedroht wird.