pfad | /ossietzk/schrift1/schrift1.xml |
type | misc |
author | Carl von Ossietzky |
title | Sämtliche Schriften ? Band 1: 1911 - 1921 |
publisher | Rowohlt |
series | Carl von Ossietzky - ämtliche Schriften |
volume | Band 1: 1911 - 1921 |
isbn | 3498050192 |
editor | Mathias Bertram, Ute Maack, Christoph Schottes |
year | |
firstpub | 1911 - 1921 |
corrector | reuters@abc.de |
sender | www.gaga.net |
created | 20090719 |
projectid | 698de7f8 |
Navigation:
- Kapitel 14
- Kapitel 1
- Kapitel 2
- Kapitel 3
- Kapitel 4
- Kapitel 5
- Kapitel 6
- Kapitel 7
- Kapitel 8
- Kapitel 9
- Kapitel 10
- Kapitel 11
- Kapitel 12
- Kapitel 13
- Kapitel 14
- Kapitel 15
- Kapitel 16
- Kapitel 17
- Kapitel 18
- Kapitel 19
- Kapitel 20
- Kapitel 21
- Kapitel 22
- Kapitel 23
- Kapitel 24
- Kapitel 25
- Kapitel 26
- Kapitel 27
- Kapitel 28
- Kapitel 29
- Kapitel 30
- Kapitel 31
- Kapitel 32
- Kapitel 33
- Kapitel 34
- Kapitel 35
- Kapitel 36
- Kapitel 37
- Kapitel 38
- Kapitel 39
- Kapitel 40
- Kapitel 41
- Kapitel 42
- Kapitel 43
- Kapitel 44
- Kapitel 45
- Kapitel 46
- Kapitel 47
- Kapitel 48
- Kapitel 49
- Kapitel 50
- Kapitel 51
- Kapitel 52
- Kapitel 53
- Kapitel 54
- Kapitel 55
- Kapitel 56
- Kapitel 57
- Kapitel 58
- Kapitel 59
- Kapitel 60
- Kapitel 61
- Kapitel 62
- Kapitel 63
- Kapitel 64
- Kapitel 65
- Kapitel 66
- Kapitel 67
- Kapitel 68
- Kapitel 69
- Kapitel 70
- Kapitel 71
- Kapitel 72
- Kapitel 73
- Kapitel 74
- Kapitel 75
- Kapitel 76
- Kapitel 77
- Kapitel 78
- Kapitel 79
- Kapitel 80
- Kapitel 81
- Kapitel 82
- Kapitel 83
- Kapitel 84
- Kapitel 85
- Kapitel 86
- Kapitel 87
- Kapitel 88
- Kapitel 89
- Kapitel 90
- Kapitel 91
- Kapitel 92
- Kapitel 93
- Kapitel 94
- Kapitel 95
- Kapitel 96
- Kapitel 97
- Kapitel 98
- Kapitel 99
- Kapitel 100
- Kapitel 101
- Kapitel 102
- Kapitel 103
- Kapitel 104
- Kapitel 105
- Kapitel 106
- Kapitel 107
- Kapitel 108
- Kapitel 109
- Kapitel 110
- Kapitel 111
- Kapitel 112
- Kapitel 113
- Kapitel 114
- Kapitel 115
- Kapitel 116
- Kapitel 117
- Kapitel 118
- Kapitel 119
- Kapitel 120
- Kapitel 121
- Kapitel 122
- Kapitel 123
- Kapitel 124
- Kapitel 125
- Kapitel 126
- Kapitel 127
- Kapitel 128
- Kapitel 129
- Kapitel 130
- Kapitel 131
- Kapitel 132
- Kapitel 133
- Kapitel 134
- Kapitel 135
- Kapitel 136
- Kapitel 137
- Kapitel 138
- Kapitel 139
- Kapitel 140
- Kapitel 141
- Kapitel 142
- Kapitel 143
- Kapitel 144
- Kapitel 145
- Kapitel 146
- Kapitel 147
- Kapitel 148
- Kapitel 149
- Kapitel 150
- Kapitel 151
- Kapitel 152
- Kapitel 153
- Kapitel 154
- Kapitel 155
- Kapitel 156
- Kapitel 157
- Kapitel 158
- Kapitel 159
- Kapitel 160
- Kapitel 161
- Kapitel 162
- Kapitel 163
- Kapitel 164
- Kapitel 165
- Kapitel 166
- Kapitel 167
- Kapitel 168
- Kapitel 169
- Kapitel 170
- Kapitel 171
- Kapitel 172
- Kapitel 173
- Kapitel 174
- Kapitel 175
- Kapitel 176
- Kapitel 177
- Kapitel 178
- Kapitel 179
- Kapitel 180
- Kapitel 181
- Kapitel 182
- Kapitel 183
- Kapitel 184
- Kapitel 185
- Kapitel 186
- Kapitel 187
- Kapitel 188
- Kapitel 189
- Kapitel 190
- Kapitel 191
- Kapitel 192
- Kapitel 193
- Kapitel 194
- Kapitel 195
- Kapitel 196
- Kapitel 197
- Kapitel 198
- Kapitel 199
- Kapitel 200
- Kapitel 201
- Kapitel 202
- Kapitel 203
- Kapitel 204
- Kapitel 205
- Kapitel 206
- Kapitel 207
- Kapitel 208
- Kapitel 209
- Kapitel 210
- Kapitel 211
- Kapitel 212
- Kapitel 213
- Kapitel 214
- Kapitel 215
- Kapitel 216
- Kapitel 217
- Kapitel 218
- Kapitel 219
- Kapitel 220
- Kapitel 221
- Kapitel 222
- Kapitel 223
- Kapitel 224
- Kapitel 225
- Kapitel 226
- Kapitel 227
- Kapitel 228
- Kapitel 229
- Kapitel 230
- Kapitel 231
- Kapitel 232
- Kapitel 233
- Kapitel 234
- Kapitel 235
- Kapitel 236
- Kapitel 237
- Kapitel 238
- Kapitel 239
- Kapitel 240
- Kapitel 241
- Kapitel 242
- Kapitel 243
- Kapitel 244
- Kapitel 245
- Kapitel 246
- Kapitel 247
- Kapitel 248
- Kapitel 249
- Kapitel 250
- Kapitel 251
- Kapitel 252
- Kapitel 253
- Kapitel 254
- Kapitel 255
- Kapitel 256
- Kapitel 257
- Kapitel 258
- Kapitel 259
- Kapitel 260
- Kapitel 261
- Kapitel 262
- Kapitel 263
- Kapitel 264
- Kapitel 265
- Kapitel 266
- Kapitel 267
- Kapitel 268
- Kapitel 269
- Kapitel 270
- Kapitel 271
- Kapitel 272
- Kapitel 273
- Kapitel 274
- Kapitel 275
- Kapitel 276
- Kapitel 277
- Kapitel 278
- Kapitel 279
- Kapitel 280
- Kapitel 281
- Kapitel 282
- Kapitel 283
- Kapitel 284
- Kapitel 285
- Kapitel 286
- Kapitel 287
- Kapitel 288
- Kapitel 289
- Kapitel 290
- Kapitel 291
- Kapitel 292
- Kapitel 293
- Kapitel 294
- Kapitel 295
- Kapitel 296
1914
14
Der kranke Mann in Wien
Gustave Hervé, der bekannte französische Sozialist, stellt in seinem letzten (von Hermann Fernau übersetzten) Buche » Elsaß-Lothringen und die deutsch-französische Verständigung« folgende Prognose: Sobald die Aufteilung der Türkei vollendet ist, kommt Österreich an die Reihe; auf den kranken Mann am Bosporus folgt der kranke Mann in Wien. – Man braucht sich diese Prognose nicht ganz zu eigen zu machen und wird doch zugeben müssen, daß ein westeuropäischer Beobachter sehr leicht zu einem so pessimistischen Schlusse über Österreichs Zukunft kommen kann; Auflösungssymptome hat das vergangene Jahr ganz besonders deutlich gezeigt. Gewiß ist es nicht leicht, Österreich zu regieren. Die Grenzen dieses zusammengeheirateten Staatengebildes umspannen ganz willkürlich so und so viele Völker verschiedenen Blutes, verschiedener Sinnesart und verschiedener Kultur. Völker, die sich als Nachbarn vielleicht vertrügen, in dieser unnatürlichen Zusammenkoppelung aber sich am liebsten die Augen auskratzten. Sie haben noch nach Jahrhunderten unter der leider so erfolgreichen Hausmachtpolitik der Habsburger zu leiden, die das Geschäft des Regierens wie Pferdehandel betrieben. Die Zeit ist dahin, da eine solche Politik bewundert und gepriesen werden konnte; aber ihr Geist spukt noch immer in den Regierungsgebäuden Cis- und Transleithaniens.
Vergeblich sucht man in Österreich-Ungarn nach einem Willen, die nationale Vielheit zu einer Einheit zusammenzuschweißen; die Bourgeoisie nährt eifrig nationalistische Vorurteile und – fährt dabei nicht schlecht. Deutsche Unternehmer jammern über brutale Majorisierung durch die Tschechen und schleppen trotzdem tausende von böhmischen Arbeitern als Lohndrücker und Streikbrecher in die deutschen Städte hinein, um nachher Zeter zu schreien, wenn diesen Leuten der Kamm schwillt. Die polnischen Provinzen sind einer niederträchtigen Junkerkamarilla ausgeliefert. Die galizischen Wahlen sind ja in der ganzen Welt berüchtigt. (Die ungarische Schandwirtschaft soll gar nicht in diese Betrachtungen gezogen werden.) In den deutschen Provinzen herrscht die Plutokratie, überall dieselbe, ob sie sich liberal oder christlichsozial nennt. Die wirkliche Großmacht aber ist die Klerisei. Die ganze Gesetzgebung ist klerikal durchsäuert. Mit aller Kraft stemmt sich der Klerus auch der bescheidensten Entwicklung entgegen. Die Wirkung ist dementsprechend. Antisemitische Rempeleien sind auf der Tagesordnung. Im heiligen Land Tirol ist es noch mit Lebensgefahr verbunden, evangelisch oder gar altkatholisch zu sein. Als Handlangerin des Klerus fungiert eine tölpelhafte Bureaukratie, die im trauten Bunde mit der Zensur dafür sorgt, daß die Erinnerung an die Ära Metternich lebendig bleibt. Kunst und Wissenschaft werden geknebelt und sollen völlig unter die Botmäßigkeit der Kirche gebracht werden. – Gibt es keinen Ausweg aus dieser Misere? Wo ist der Wille zu bessern? Wo sind die Hände, um all diesen Staub und Unrat mit rauhem Besen wegzufegen?
Dabei sind die Klerikalen noch lange nicht zufrieden. Ihre große Hoffnung heißt Franz Ferdinand. In ihm sehen sie den Mann, der auserkoren ist, dem »verfluchten« Königreich Italien den Fehdehandschuh hinzuwerfen, den »Gefangenen« aus dem Vatikan zu »erlösen« und den Kirchenstaat wieder herzustellen. Diese törichten Hoffnungen dürfte wohl auch Franz Ferdinand nicht erfüllen. Bedenklicher ist schon, daß weite Kreise in ihm den künftigen Mehrer des Reiches sehen, den siegreichen Cäsar, der die Balkanfrage mit dem Schwert in der Hand lösen wird. Aber auch das sind letzten Endes nur Vermutungen. Tatsache ist, daß er unter pfäffischem Einflusse steht und daß seine Gattin, die Herzogin Hohenberg, um für ihre Kinder das Thronfolgerecht zu erlangen, sich mit Leib und Seele den Jesuiten verschrieben hat. Der Einfluß dieser Frau ist nicht gering. Ihr frommer Eifer wird von den Dienern der Kirche geschürt. Gilt sie doch als Haupt der Opposition gegen den Generalstabschef, der – ein glänzender Offizier, ein bedeutender Organisator (eine in Österreich nur spärlich auftretende Gattung!) – sich mißliebig gemacht hat, weil er – nicht oft genug beten ging. Es war das diplomatische Meisterstück des verstorbenen Kardinals Nagl, den Ehrgeiz der Herzogin Hohenberg als Hebel zu benutzen. Der Erfolg für die Kirche war glänzend. Die Schule ist ihr ausgeliefert; das vorsintflutliche Eherecht besteht noch immer. Das Land Joseph II. ist trotz Spanien das Musterland des Klerikalismus.
Die Klerisei hat also keinen Grund zum klagen. Im Gegenteil, die nationale Zerklüftung kommt ihr sehr gelegen. Desto mehr Kopfzerbrechen macht diese aber den weltlichen Behörden. Im vergangenen Jahr kam es wirklich zu einer Katastrophe: Böhmen mußte den Bankrott erklären. Das war die Wirkung der Obstruktionsspielerei. Die Lösung war echt österreichisch. Man hob die Verfassung auf und setzte eine bureaukratische Generalvormundschaft ein. Vernünftige Menschen hätten in diesem Staatsbankrott eine derbe Warnung gesehen; eine neue Konsolidation wäre nötig gewesen, denn der Staat ist doch kein Tummelplatz für Willkür aller Art. Aber man suchte das Problem anders zu lösen. Irgendwer entdeckte plötzlich in dem invaliden Völkerbrei die Sehnsucht nach Machtpolitik, und eine aberwitzige Kriegshetze setzte ein. Die »tapfere, glorreiche Armee« wurde mit den widerlichsten Schmeicheleien bedacht. Dazu war die äußere Politik fabelhaft ungeschickt. Sie verschaffte den schwarzgelben Imperialisten faustdicke Blamagen. Aber das Kriegsgeheul fand im Lande selbst ein wahrhaft deprimierendes Echo: den Fall Redl. Und das war nur der Anfang; denn das Jahr 1913 brachte einen wahren Hagelschlag von Korruptionsaffären. Und als letzte und duftigste Blüte stellt sich der Fall Dlugosz dar. Herr Dlugosz, der polnische Landsmannminister, der Liebling der galizischen Schlachta, der Favorit des allmächtigen Polenklubs, wird plötzlich gemeiner Verbrechen überführt. Nun ist großes Wehklagen. Wo kommen sie her, diese Katilinarier von Redl bis Dlugosz? – Nicht so naiv, ihr lieben Leute! Wo so reichlich mit Nationalismus gedüngt wird, ist der Boden für Korruption bereitet. Wo Junker, Pfaffen und Bureaukratie wirtschaften, wo der Absolutismus herrscht, höchstens gemildert durch den Egoismus kapitalistischer Koterien, da ist das rechte Feld für Marodeure.
Diese Interna könnten uns gleichgültig bleiben, wenn nicht Österreich unsere – sozusagen kontraktlich – befreundete Macht wäre. Es ist anzunehmen, daß unsere Regierung von dort aus reaktionär beraten wird. Auch ist die katholische Junkerschaft in Schlesien und Westfalen mit dem österreichischen Hochadel geradezu verfilzt. Der katholische Adel Preußens z.B., auch Bayerns und Sachsens, schickt seine Söhne mit Vorliebe in das österreichische Jesuitenkollegium Feldkirch. Eine viel schlimmere Gefahr aber birgt Österreichs provozierende Balkanpolitik in sich. Es wäre Pflicht unserer Staatsmänner, den Herren am Ballhausplatz hin und wieder einen derben Dämpfer aufzusetzen.
Es gibt in Wien auch genug Politiker, die in einem großen Waffengange den letzten Ausweg aus dem österreichischen Elend sehen: die eiserne Notwendigkeit soll die vielen Völker zusammenschmieden. Diese Kalkulation mag bestechend sein; sie ist aber grundverkehrt. Der Krieg ist kein Jungbrunnen; die Regenerationsarbeit muß an den Wurzeln der Kultur beginnen. Deshalb sind wir auch der österreichischen Sozialdemokratie zu Dank verpflichtet, die seit Jahren die große Masse der Arbeiter und Kleinbürger über das Wesen der nationalistischen und christlichen Demagogie aufklärt. Die Sehnsucht nach menschenwürdiger Lebenshaltung und Bildung in die Massen zu tragen, ist wirkliche Kulturarbeit. In diesem Sinne muß auch die Tätigkeit des Deutschen Schulvereins gewürdigt werden, der seit längerer Zeit für die freie weltliche Schule kämpft. Auch die freidenkerische und monistische Bewegung gedeiht trotz aller reaktionären Knebelungsversuche. In den freigeistigen Organisationen sind neben den Sozialisten bürgerliche Demokraten tätig, die, von der Geschäftspolitik der herrschenden Cliquen angewidert, der politischen Arena den Rücken gekehrt haben, um in aller Stille für die kulturelle Wiedergeburt ihres Vaterlandes zu wirken.
Von den bürgerlichen Parlamentariern Österreichs ist ebenso wenig zu erwarten wie vom Börsenliberalismus der großen Wiener Presse. Gewiß darf sich Österreich rühmen, das »temperamentvollste« Parlament Europas zu besitzen. Nirgends stoßen die Meinungen und Interessen so geräuschvoll zusammen. Man lärmt; man tobt; es setzt einen »Haderlumpen« nach dem anderen; aber wenn die Sitzung zu Ende ist, geht es im trauten Verein ins nächste Café. Aller Streit ist begraben. Man spielt Tarock; man toastet; man lacht; man erzählt galante Geschichtchen und freut sich des Daseins, das so schön ist – trotz der Pfandjuden. Der Haderlump von eben wird zum angenehmen »Spezi«. Gelt, Bruderherz, es läßt sich noch immer vergnügt leben in Neu-Sybaris! Da draußen freilich rollt eine andere Welt. In den Vorstädten fängt sie schon an, die Welt der Arbeit, des Elends und des Schmutzes – – –
Was schiert das uns?
S' gibt nur a Kaiserstadt; s' gibt nur a Wean –
Das freie Volk, 24. Januar 1914