type | legend |
booktitle | Sagen des klassischen Altertums |
author | Gustav Schwab |
year | 1982 |
publisher | Insel Verlag |
address | Frankfurt am Main |
isbn | 3-458-31827-5 |
title | Sagen des klassischen Altertums |
pages | 3-972 |
sender | gerd.bouillon@t-online.de |
firstpub | 1838 |
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Niobe
Niobe, die Königin von Theben, war auf vieles stolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Musen die herrliche Leier erhalten, nach deren Spiel sich die Steine der thebischen Königsburg von selbst zusammengesetzt hatten; ihr Vater war Tantalos, der Gast der Götter; sie war die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und selbst voll Hoheit des Geistes und von majestätischer Schönheit; nichts aber von allem diesem schmeichelte ihr so sehr als die stattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren. Auch hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichste, und sie wäre es gewesen, wenn sie nur sich selbst nicht dafür gehalten hätte; so aber wurde das Bewußtsein ihres Glückes ihr Verderben.
Einst rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahrsagers Tiresias, von göttlicher Regung angetrieben, mitten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung Latonas und ihrer Zwillingskinder, Apollos und der Artemis, auf, hieß sie die Haare mit Lorbeeren bekränzen und frommes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als nun die Thebanerinnen zusammenströmten, kam auf einmal Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem golddurchwirkten Gewande angetan, prunkend einhergerauscht. Sie strahlte von Schönheit, soweit es der Zorn zuließ, ihr schmuckes Haupt bewegte sich zugleich mit dem über beide Schultern herabwallenden Haar. So stand sie in der Mitte der unter freiem Himmel mit dem Opfer beschäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem Kreise der Versammelten ruhen und rief. »Seid ihr nicht wahnsinnig, Götter zu ehren, von denen man euch fabelt, während vom Himmel begünstigtere Wesen mitten unter euch weilen? Wenn ihr der Latona Altäre errichtet, warum bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch? Ist doch mein Vater Tantalos der einzige Sterbliche, der am Tische der Himmlischen gesessen hat, meine Mutter Dione, die Schwester der Plejaden, die als leuchtendes Gestirn am Himmel glänzen; mein einer Ahn Atlas, der Gewaltige, der das Gewölbe des Himmels auf dem Nacken trägt; mein Vatersvater Zeus, der Vater der Götter; selbst Phrygiens Völker gehorchen mir, mir und meinem Gatten ist die Stadt des Kadmos, sind die Mauern untertan, die sich dem Saitenspiel Amphions gefügt haben; jeder Teil meines Palastes zeigt mir unermeßliche Schätze; dazu kommt ein Antlitz, wie es einer Göttin wert ist, dazu eine Kinderschar, wie keine Mutter sie aufweisen kann: sieben blühende Töchter, sieben starke Söhne, bald ebenso viele Eidame und Schwiegertöchter. Fraget nun, ob ich auch Grund habe, stolz zu sein! Waget es noch ferner, mir Latona, die unbekannte Titanentochter, vorzuziehen, welcher einst die breite Erde keinen Raum gegönnt hat, wo sie dem Zeus gebären konnte, bis die schwimmende Insel Delos der Umherschweifenden aus Mitleid ihren unbefestigten Sitz darbot. Dort wurde sie Mutter zweier Kinder, die Armselige. Das ist der siebente Teil meiner Mutterfreude! Wer leugnet, daß ich glücklich bin, wer zweifelt, daß ich glücklich bleibe? Die Schicksalsgöttin hätte viel zu tun, wenn sie gründlich meinem Besitze schaden wollte! Nähme sie mir dies oder jenes, selbst von der Schar meiner Gebornen, wann wird je ihr Haufe zu der armen Zwillingszahl Latonens heruntersinken? Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren mit dem Lorbeer! Zerstreuet euch in eure Häuser und laßt euch nicht wieder über so törichtem Beginnen treffen!«
Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupte, ließen die Opfer unvollendet und schlichen nach Hause, mit stillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.
Auf dem Gipfel des delischen Berges Kynthos stand mit ihren Zwillingen Latona und schaute mit ihrem Götterauge, was in dem fernen Theben vorging. »Seht, Kinder, ich, eure Mutter, die auf eure Geburt so stolz ist, die keiner Göttin außer Hera weicht, werde von einer frechen Sterblichen geschmäht; ich werde von den alten heiligen Altären hinweggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beschimpft, werdet ihrem Kinderhaufen von ihr nachgesetzt!« Latona wollte zu ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbos unterbrach sie und sprach: »Laß die Klage, Mutter, sie hält die Strafe nur auf!« Ihm stimmte seine Schwester bei; beide hüllten sich in eine Wolkendecke, und mit einem raschen Schwung durch die Lüfte hatten sie die Stadt und Burg des Kadmos erreicht. Hier breitete sich vor den Mauern ein geräumiges Blachfeld aus, das nicht für die Saat bestimmt, sondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wagen gewidmet war. Da belustigten sich eben die sieben Söhne Amphions: die einen bestiegen mutige Rosse, die andern erfreuten sich des Ringspieles. Der älteste, Ismenos, trieb eben sein Tier im Viertelstrabe sicher im Kreise um, das schäumende Maul ihm bändigend, als er plötzlich: »Wehe mir!« ausrief, den Zaum aus den erschlaffenden Händen fahren ließ und, einen Pfeil mitten ins Herz geheftet, langsam rechts am Buge des Rosses heruntersank. Sein Bruder Sipylos, der ihm zunächst sich tummelte, hatte das Gerassel des Köchers in den Lüften gehört und floh mit verhängtem Zügel, wie ein Steuermann vor dem Wetter jedes Lüftchen in den Segeln auffängt, um in den Hafen einzulaufen. Dennoch holte ihn ein durch die Luft schwirrender Pfeil ein, zitternd haftete ihm der Schaft hoch im Genick, und das nackte Eisen ragte zum Halse heraus. Über die Mähne des galoppierenden Pferdes herab glitt der tödlich Getroffene zu Boden und besprengte die Erde mit seinem rauchenden Blut. Zwei andere, der eine hieß wie sein Großvater, Tantalos, der andere Phaidimos, lagen miteinander ringend, in fester Umschlingung Brust an Brust verschränkt. Da tönte der Bogen aufs neue, und wie sie vereinigt waren, durchbohrte sie beide ein Pfeil. Beide seufzten zugleich auf, krümmten die schmerzdurchzuckten Glieder auf dem Boden, verdrehten die erlöschenden Augen und hauchten mit einem Atem die Seelen im Staub aus. Ein fünfter Sohn, Alphenor, sah diese fallen; die Brust sich schlagend, flog er herbei und wollte die erkälteten Glieder der Brüder durch seine Umarmungen wieder beleben, aber unter diesem frommen Geschäfte sank er auch dahin, denn Phöbos Apollo sandte ihm das tödliche Eisen tief in die Herzkammer hinein, und als er es wieder herauszog, drängte sich mit dem Atem das Blut und das Eingeweide des Sterbenden hervor. Damasichthon, den sechsten, einen zarten Jüngling mit langen Locken, traf ein Pfeil in das Kniegelenk; und während er sich rückwärts bog, das unerwartete Geschoß mit der Hand herauszuziehen, drang ihm ein anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund hinab in den Hals, und ein Blutstrahl schoß wie ein Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor. Der letzte und jüngste Sohn, der Knabe Ilioneus, der dies alles mit angesehen hatte, warf sich auf die Knie nieder, breitete die Arme aus und fing an zu flehen: »O all ihr Götter miteinander, verschont mich!« Der furchtbare Bogenschütze selbst wurde gerührt, aber der Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe sank zusammen. Doch fiel er an der leichtesten Wunde, die kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.
Der Ruf des Unglückes verbreitete sich bald in die Stadt. Amphion, der Vater, als er die Schreckenskunde hörte, durchbohrte sich die Brust mit dem Stahl. Der laute Jammer seiner Diener und alles Volks drang bald auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das Schreckliche nicht zu fassen; sie wollte nicht glauben, daß die Himmlischen so viel Vorrechte hätten, daß sie es wagten, daß sie es vermochten. Aber bald konnte sie nicht mehr zweifeln. Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe der vorigen, die eben erst das Volk von den Ältären der mächtigen Göttin zurückscheuchte und mit hohem Nacken durch die Stadt einherschritt! Jene erschien auch ihren liebsten Freunden beneidenswert, diese des Mitleids würdig selbst dem Feinde! Sie kam herausgestürzt auf das Feld, sie warf sich auf die erkälteten Leichname, sie verteilte ihre letzten Küsse an die Söhne, bald an diesen, bald an jenen. Dann hub sie die zerschlagenen Arme gen Himmel und rief. »Weide dich nun an meinem Jammer, sättige dein grimmiges Herz, du grausame Latona, der Tod dieser sieben wirft mich in die Grube; triumphiere, siegende Feindin!«
Jetzt waren auch ihre sieben Töchter, schon in Trauergewande gekleidet, herbeigekommen und standen mit fliegenden Haaren um die gefallenen Brüder her. Ein Strahl der Schadenfreude zuckte bei ihrem Anblick um Niobes blasses Gesicht. Sie vergaß sich, warf einen spottenden Blick gen Himmel und sagte: »Siegerin! nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr als dir in deinem Glück. Auch nach so vielen Leichen bin ich noch Überwinderin!« Kaum hatte sie's gesprochen, als man eine Sehne ertönen hörte, wie von einem straff angezogenen Bogen. Alles erschrak, nur Niobe bebte nicht; das Unglück hatte sie beherzt gemacht. Da fuhr plötzlich eine der Schwestern mit der Hand ans Herz; sie zog einen Pfeil heraus, der ihr im Innersten haftete. Ohnmächtig zu Boden gesunken, senkte sie ihr sterbendes Antlitz über den nächstgelegenen Bruder. Eine andere Schwester eilt auf die unglückselige Mutter zu, sie zu trösten; aber von einer verborgenen Wunde gebeugt, verstummte sie plötzlich. Eine dritte sinkt im Fliehen zu Boden, andere fallen, über die sterbenden Schwestern hingeneigt. Nur die letzte war noch übrig, die sich in den Schoß der Mutter geflüchtet und an diese, von ihrem faltigen Gewande zugedeckt, sich kindisch anschmiegte. »Nur die einzige laßt mir«, schrie Niobe wehklagend zum Himmel, »nur die jüngste von so vielen!« Aber während sie noch flehte, stürzte schon das Kind aus ihrem Schoße nieder, und einsam saß Niobe zwischen ihres Gatten, ihrer Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erstarrte sie vor Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes; aus dem Gesichte wich das Blut; die Augen standen unbewegt in den traurigen Wangen; im ganzen Bilde war kein Leben mehr; die Adern stockten mitten im Pulsschlag, der Nacken drehte, der Arm regte, der Fuß bewegte sich nicht mehr; auch das Innere des Leibes war zum kalten Felsstein geworden. Nichts lebte mehr an ihr als die Tränen; diese rannen unaufhörlich aus den steinernen Augen hervor. Jetzt faßte den Stein eine gewaltige Windsbraut, führte ihn fort durch die Lüfte und über das Meer und setzte ihn erst in der alten Heimat Niobes, in Lydien, im öden Gebirge, unter den Steinklippen des Sipylos nieder. Hier haftete Niobe als ein Marmorfelsen am Gipfel des Berges, und noch jetzt zerfließt der Marmor in Tränen.