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type | report |
author | Joseph Roth |
title | Reportagen aus Wien und Frankreich |
corrector | reuters@abc.de |
sender | www.gaga.net |
created | 20120610 |
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Die Mülli!
Plötzlich geschah es, daß eine Frau aus einer Ecke des übervollen Straßenbahnwagens den Ruf ausstieß: »Die Mülli!« Hätte sie: »Es brennt!« gerufen, die Aufregung wäre viel geringer gewesen. Ich sah aus bleichen, bartstoppelübersäten Mannsköpfen gierige Heißhungeraugen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Habichtblicke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, dürr und pergamenten wie Dörrgemüse, erstaunt, erschrocken, bebend wie vor einem Großen, Ungeahnten, Schönen und doch Schauerlichen die Köpfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen der Großen hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein dünner Strahl, weiß und fettgelblich wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens bedächtig und gemächlich rann. Die Milchkanne der Bäuerin aus Stockerau war über die Füße eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Ersatzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spalten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon saßen, hoben die Füße in die Höhe, aus Angst, in die Milch treten zu müssen. War es die Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus den Eutern der heiligen Lämmer Mahabharathus? Was war das für eine Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und vor der die Leute auf die Bänke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen? Es war die Milch einer gewöhnlichen sterblichen Kuh aus den irdischen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit für die Großen, ein weißes Silbermärchen von ungeahnten Geheimnissen für die Kleinen. Es war eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da die Krone noch einen Nährwert hatte und die Milch eine Valuta. Es war Milch, gewöhnliche, außerordentliche, einfache, göttliche Milch ...
Es hat wenig gefehlt und ich hätte das erhebende Schauspiel erlebt, daß gestoßene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anleihen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter überstandene, Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden einer Elektrischen glatt und bäuchlings ausgestreckt gelegen hätten, um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hötzendorf gepriesen, die ausgeronnene Milch zu schlecken ...
Josephus
Der Neue Tag, 1. 6. 1919