title | Die Insel |
type | poem |
booktitle | Lyrik und Prosa |
author | Rainer Maria Rilke |
publisher | Insel Verlag |
sender | guenter.ullwer@cmcc.com |
created | 20030407 |
Navigation:
- Kapitel 37
- Tanagra
- Römische Sarkophage
- Die Erblindende
- O Lacrimosa, II
- Das Karussell - Jardin du Luxembourg
- Mädchenklage
- Der Turm
- Opfer
- Der Stifter
- Der Schwan
- Archaischer Torso Apollos
- Todes-Erfahrung
- Römische Fontäne (Villa Borghese)
- Vorfrühling
- Meine Mutter
- Buddha
- Die Erwachsene
- Abisag
- Menschen bei Nacht
- Gott im Mittelalter
- Der Marmor-Karren
- Kindheit
- Der König
- Musik
- Der Gefangene
- Die Kurtisane
- Ein Frauenschicksal
- Die Fensterrose
- Wunderweiße Nächte
- Im Saal
- David singt vor Saul
- Leda
- Josuas Landtag
- L?ange du meridien
- Die Treppe der Orangerie
- Orpheus. Eurydike. Hermes
- Die Insel
- Der Platz - Furnes
- Advent
- Sankt Sebastian
- Pietà
- Du musst das Leben nicht verstehen
- Der Panther
- Beguinage
- Der Ölbaumgarten
- Der Engel
- Du Dunkelheit aus der ich stamme
- Jugend-Bildnis meines Vaters
- Die Genesende
- Selbstbildnis aus dem Jahre 1906
- Spanische Tänzerin
- Das Kapitäl
- Die Rosenschale
- Sappho an Eranna
- Blaue Hortensie
- Alkestis
- Sappho an Alkaïos (Fragment)
- Das Portal
- Der Auszug des verlorenen Sohnes
- Der Tod des Dichters
- Grabmal eines jungen Mädchens
- Eranna an Sappho
- Traumgekrönt
- Das Einhorn
- Abschied
- In einem fremden Park
- Hetären-Gräber
- Morgue
- Herbsttag
- Auferstehung
- Für Wolf Graf von Kalckreuth
- Östliches Taglied
- Rosa Hortensie
- Früher Apollo
- Tränen, Tränen, die aus mir brechen
- Letzter Abend
- Am Strande
- Die Kathedrale
- Gesang der Frauen an den Dichter
- Liebeslied
- Die Flamingos
- Vor dem Sommerregen
- Der letzte Graf von Brederode entzieht sich türkischer Gefangenschaft
- Die Gazelle
- Quai du Rosaire
- Der Fahnenträger
- Der Dichter
- Die Spitze
Rainer Maria Rilke
Die Insel
Nordsee
I
Die nächste Flut verwischt den Weg im Watt,
und alles wird auf allen Seiten gleich;
die kleine Insel aber draußen hat
die Augen zu; verwirrend kreist der Deich
um ihre Wohner, die in einen Schlaf
geboren werden, drin sie viele Welten
verwechseln, schweigend; denn sie reden selten,
und jeder Satz ist wie ein Epitaph
für etwas Angeschwemmtes, Unbekanntes,
das unerklärt zu ihnen kommt und bleibt.
Und so ist alles was ihr Blick beschreibt
von Kindheit an: nicht auf sie Angewandtes,
zu Großes, Rücksichtsloses, Hergesandtes,
das ihre Einsamkeit noch übertreibt.
II
Als läge er in einem Krater-Kreise
auf einem Mond: ist jeder Hof umdämmt,
und drin die Gärten sind auf gleicher Weise
gekleidet und wie Waisen gleich gekämmt
von jenem Sturm, der sie so rauh erzieht
und tagelang sie bange macht mit Toden.
Dann sitzt man in den Häusern drin und sieht
in schiefen Spiegeln was auf den Kommoden
Seltsames steht. Und einer von den Söhnen
tritt abends vor die Tür und zieht ein Tönen
Aus der Harmonika wie Weinen weich;
so hörte ers in einem fremden Hafen -.
Und draußen formt sich eines von den Schafen
ganz groß, fast drohend auf dem Außendeich.
III
Nah ist nur Innres; alles andre fern.
Und dieses Innere gedrängt und täglich
mit allem überfüllt und ganz unsäglich.
Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern
welchen der Raum nicht merkt und stumm zerstört
in seinem unbewußten Furchtbarsein,
so daß er, unerhellt und überhört,
allein
das mit dies alles doch ein Ende nehme
dunkel auf einer selbsterfundnen Bahn
versucht zu gehen, blindlings, nicht im Plan
der Wandelsterne, Sonnen und Systeme.