booktitle | Neue Gedichte von Rainer Maria Rilke |
title | Abisag |
year | 1923 |
publisher | Insel Verlag |
address | Leipzig |
author | Rainer Maria Rilke |
type | poem |
sender | hille@abc.de |
copyright | 1996 abc.de Internet-Dienste (HTML-Text) |
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- Kapitel 18
- Tanagra
- Römische Sarkophage
- Die Erblindende
- O Lacrimosa, II
- Das Karussell - Jardin du Luxembourg
- Mädchenklage
- Der Turm
- Opfer
- Der Stifter
- Der Schwan
- Archaischer Torso Apollos
- Todes-Erfahrung
- Römische Fontäne (Villa Borghese)
- Vorfrühling
- Meine Mutter
- Buddha
- Die Erwachsene
- Abisag
- Menschen bei Nacht
- Gott im Mittelalter
- Der Marmor-Karren
- Kindheit
- Der König
- Musik
- Der Gefangene
- Die Kurtisane
- Ein Frauenschicksal
- Die Fensterrose
- Wunderweiße Nächte
- Im Saal
- David singt vor Saul
- Leda
- Josuas Landtag
- L?ange du meridien
- Die Treppe der Orangerie
- Orpheus. Eurydike. Hermes
- Die Insel
- Der Platz - Furnes
- Advent
- Sankt Sebastian
- Pietà
- Du musst das Leben nicht verstehen
- Der Panther
- Beguinage
- Der Ölbaumgarten
- Der Engel
- Du Dunkelheit aus der ich stamme
- Jugend-Bildnis meines Vaters
- Die Genesende
- Selbstbildnis aus dem Jahre 1906
- Spanische Tänzerin
- Das Kapitäl
- Die Rosenschale
- Sappho an Eranna
- Blaue Hortensie
- Alkestis
- Sappho an Alkaïos (Fragment)
- Das Portal
- Der Auszug des verlorenen Sohnes
- Der Tod des Dichters
- Grabmal eines jungen Mädchens
- Eranna an Sappho
- Traumgekrönt
- Das Einhorn
- Abschied
- In einem fremden Park
- Hetären-Gräber
- Morgue
- Herbsttag
- Auferstehung
- Für Wolf Graf von Kalckreuth
- Östliches Taglied
- Rosa Hortensie
- Früher Apollo
- Tränen, Tränen, die aus mir brechen
- Letzter Abend
- Am Strande
- Die Kathedrale
- Gesang der Frauen an den Dichter
- Liebeslied
- Die Flamingos
- Vor dem Sommerregen
- Der letzte Graf von Brederode entzieht sich türkischer Gefangenschaft
- Die Gazelle
- Quai du Rosaire
- Der Fahnenträger
- Der Dichter
- Die Spitze
Rainer Maria Rilke
Abisag
I
Sie lag. Und ihre Kinderarme waren
von Dienern um den Welkenden gebunden,
auf dem sie lag die süßen langen Stunden,
ein wenig bang vor seinen vielen Jahren.
Und manchmal wandte sie in seinem Barte
ihr Angesicht, wenn eine Eule schrie;
und alles, was die Nacht war, kam und scharte
mit Bangen und Verlangen sich um sie.
Die Sterne zitterten wie ihresgleichen,
der Duft ging suchend durch das Schlafgemach,
der Vorhang rührte sich und gab ein Zeichen,
und leise ging ihr Blick dem Zeichen nach.
Aber sie hielt sich an dem dunkeln Alten,
und von der Nacht der Nächte nicht erreicht,
lag sie auf seinem fürstlichen Erkalten
jungfräulich und wie eine Seele leicht.
II
Der König saß und sann den leeren Tag
getaner Taten, ungefühlter Lüste
und seiner Lieblingshündin, der er pflag-,
Aber am Abend wölbte Abisag
sich über ihm. Sein wirres Leben lag
verlassen wie verrufne Meeresküste
unter dem Sternbild ihrer stillen Brüste.
Und manchmal, als ein Kundiger der Frauen,
erkannte er durch seine Augenbrauen
den unbewegten, küsselosen Mund;
und sah: ihres Gefühles grüne Rute
neigte sich nicht herab zu seinem Grund.
Ihn fröstelte. Er horchte wie ein Hund
und suchte sich in seinem letzten Blute.