type | fiction |
booktitle | Sämtliche Werke Abteilung I Band 1 |
author | Jean Paul |
year | 1996 |
publisher | Zweitausendeins |
address | Frankfurt am Main |
isbn | 3-86150-152-X |
title | Hesperus oder 45 Hundposttage |
pages | 471-1236 |
sender | gerd.bouillon@t-online.de |
firstpub | 1795 |
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Flüchtiges Extrablättchen, worin der närrische Charakter der Flachsenfinger skizziert wird – oder perspektivischer Aufriß der Stadt Klein-Wien.
Klein-Wien heißen viele mein Flachsenfingen, so wie es ein Klein-Leipzig, Klein-Paris u. s. w. gibt. Es können aber wohl zwei Städte nicht weiter voneinander in Sitten abstehen als Flachsenfingen, wo man sein Leben und seine Seele verfrißt und versäuft, und Wien, wo man vielleicht den entgegengesetzten Fehler eines spartischen Ausmergelns nicht genug vermeidet. Die Klein-Wiener oder Flachsenfinger öffnen dem Genuß der Natur weniger ihr Herz als ihren Magenmund – Auen sind die Küchenstücke ihres Viehes, und Gärten die ihrer Besitzer – die Milchstraße fesselt und sättigt ihren Geist (ob sie gleich länger ist) nicht halb so sehr, als die Königsberger Bratwurst von 1583 es täte, welche fünfhundertundsechsundneunzig Ellen lang und viermal schwerer war als der Gelehrte selber, der sie der Nachwelt geschildert, Herr WagenseilEs ist der mit den langen Schuhen, in seiner »Erziehung eines jungen Prinzen« 1705.. – – Sind das Züge, auf welche die Fuhrleute den Namen Klein-Wien begründen? Ich war oft in Groß-Wien und kenne die Großkreuze, Kleinkreuze und Kommandeurs des Temperanzordens, der dort so gemein ist, persönlich: ich kann also allerdings einen gültigen Zeugen abgeben, und mir ist zu glauben, wenn ich – da man in Klein-Wien außerordentlich säuft – von Groß-Wien, und ausdrücklich von dessen Klosterleuten, ganz etwas anders verfechte; sie haben nicht nur immerfort den größten Durst – der doch weg sein müßte, wenn man ihn löschte –, sondern sie bedienen sich auch gegen die Trunkenheit eines schönen Mittels vom Plato. Dieser Alte gibt uns den Rat, in der Betrunkenheit in einen Spiegel zu schauen, um durch die zerrissene Gestalt, die uns darin an unsere Entehrung erinnert, auf immer davon abgemahnet zu sein. Daher stellen oft ganze Domkapitel, der Dechant, der Subsenior, die Domizellaren u. s. w., Gefäße mit Wein oder Bier vor sich hin und heben sie an die Augen und besehen in diesem (metamorphotischen oder) Zerrspiegel, der die entstellten Züge noch mehr entstellt (weil er wackelt), sich schon lange nach des Philosophen Rat. Ich frage aber, ob Leute, die beständig so tief ins Glas gucken, Trinken lieben können! –
Daraus folgt aber nicht, daß ich den Groß-Wienern die Ähnlichkeit mit den Flachsenfingern auch in solchen Zügen nehme, die ehren. So lass' ich jene recht gern diesen z. B. darin ähnlich sein, daß sie an keiner Dichtkunst, keiner Schwärmerei und Empfindsamkeit – denn das ist alles einerlei – krank liegen. Viktor würde dieses Lob in seiner Sprache so etwa klingen lassen: »Die Wiener Autoren (selber die besten, nur Denis und kaum drei ausgenommen) geben dem Leser keine über die ganze Gegenwart tragende Flügel durch jenen Seelen-Adel, durch jene Verschmähung der Erde, durch jene Achtung für alte Tugend und Freiheit und höhere Liebe, worin andre deutsche Genien wie in heiligen Strahlen glänzen«So sprach bloß die erste Auflage 1795 von Wienern; eine dritte verbesserte erkennt auch 1819 eine verbesserte von ihnen an, ob sie gleich die Schatten ihrer Vorzeit lebendig aufbewahrt. , und er würde sich deshalb auf die »Wiener Skizzen«, auf »Faustin«, auf Blumauer und auf den »Wiener Musenalmanach« berufen. Den Tadel würde selber ein Wiener nützlichst annehmen und uns fragen, ob wir einen Musenalmanach (wie er) mit einem Zoten-Bodensatz aufzuweisen haben, worauf man setzen könnte: »Mit Approbation des Bordells.« – Dieses Gefühl des literarischen Unterschiedes nötigte sogar einen Nicolai – sonst kein besonderer Amoroso der Wiener Schriftsteller –, in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek eine eigne Seitenloge für diese einzubauen, ob er gleich sonst Schreiber aller andern Deutschkreise in ein Parterre zusammenwirft. Auf ähnliche Art sah ich in Baiern, daß an dem Galgen außer dem gewöhnlichen Balken für die drei christlichen Konfessionsverwandten noch ein besonderer schismatischer Querpfosten angebracht war, an welchen bloß die Judenschaft geheftet wurde.
Der Flachsenfinger weiß, daß an Poeten nichts ist, und springt in Büchern, wo Versebäche durch die Prose laufen, über die Bäche hinweg, wie gewisse Leute spät in die Kirche gehen, um dem Singen zu entweichen. Er ist ein treuer Diener des Staats, dem bekannt ist, wozu die poetische goldne Ader beim Revision-, Kommision-, Relation-, Enrollierungwesen zu gebrauchen ist: zu gar nichts; inzwischen will er doch, wenn er auch einen Klopstock und Goethe nicht schätzen kann, in müßigen Stunden einen guten Knüttelvers und Leberreim nicht verachten. Eine solche glücklich robuste Seelen-Natur, worin man weniger seinen Geist erhöhen will als seinen Pacht, macht es freilich begreiflich, wie es Schutzpocken geben kann, vermittelst deren der Flachsenfinger allein (wie Sokrates) in der Pest der Empfindsamkeit unangefochten herumwandelte. Der volle Mond machte bei ihnen volle Krebse, aber keine volle Herzen, und das, was sie darin pflanzten, damit er den Wachstum begünstigte, war nicht Liebe, sondern – Kohlrüben. Der echte Klein-Wiener zielt nach viel nähern Schießscheiben als nach dieser weißen droben. Geheiratet wird da mit wahrer Lust, ohne daß man sich vorher totgeschossen oder totgeseufzet – man kennt keine Hindernisse der Liebe als kirchliche – die weibliche Tugend ist eine Gürtelschnalle, die so lange halten soll als der Geschlechtname der Tochter – die Herzen der Töchter sind da wie Briefumschläge, die sich, wenn sie einmal an einen Herrn überschrieben waren, leicht umstülpen lassen, damit man darauf die Aufschrift an einen andern Menschen mache – die Mädchen lieben da nicht aus Koketterie, sondern aus Einfalt allen Teufel, ausgenommen arme Teufel...
Kurz, mein Korrespondent, von dem ich alles habe, ist fast parteiisch für Klein-Wien eingenommen und widerspricht daher heftig dem Verfasser des reisenden Franzosen, der irgendwo gesagt haben soll – hätt' ich ihn im Hause, so wüßt' ich, wie eigentlich Klein-Wien heiße –, daß der Flachsenfinger wenigstens zum Räuber nicht Kraft genug besitze. Knef aber sagt, er wolle hoffen, daß sie schon gestohlen haben, und stützt sich auf die, die man aufgehangen.
Ende des flüchtigen Extrablättchens, worin der närrische Charakter der Flachsenfinger skizzieret wurde – oder des perspektivischen Aufrisses der Stadt Klein-Wien
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Aber unter solchen Menschen konnte mein Held bei aller Duldung keine frohe Tage finden, er, der allen Eigennutz, zumal den schmausenden, so haßte, und der gern in Doktor Grahams Vorlesungen hospitiert hätte, worin dieser lehrte, ohne Essen zu leben – er, der in sein Herz so gern den von der Poesie geflügelten Samen der Wahrheit aufnahm; der einen Emanuel am Herzen trug und den Mangel an poetischem Gefühle sogar für ein Zeichen hielt, daß der moralische Mensch noch nicht alle Raupenhäute weggelegt – er, der das ganze Leben und den ganzen Staatskörper für die Hülse ansah, worin der Kern des zweiten Lebens reift – – o! wer so denkt, ist zu einsam unter denen, die anders denken!
– So lag die Welt um ihn, als er ein Blatt von der guten Pfarrerin bekam: »Man sagt hier allgemein, Sie wären gestorben. Aber ich lasse mich gegen die Leute vernehmen, Sie müßten, da Sie so wenig von sich hören ließen und alle Welt vergäßen, eben deswegen noch am Leben sein. Bestätigen Sie meinen Satz! Wir sehnen uns alle herzlich und närrisch nach Ihnen, und ich möchte Sie wohl bitten, den einundzwanzigsten zu kommen (wenn Sie nicht die Hochzeit beim Stadtsenior mehr hindert als meinen Flamin). Wir haben Ihnen hier nichts anzubieten als den Geburttag unserer Klotilde. O guter Mylord, o geliebte Lordship, wie wars Denenselben bisher möglich, so lange stumm und unsichtbar zu bleiben? Eine treue Freundin, die gar nichts von den Damen Ihres Hofes an sich hat, nicht einmal die Veränderlichkeit, wünschet Sie herzlich vor ihr Auge und vor ihr Ohr – und diese Dame bin ich – und wenn ich Sie kommen sehe, werde ich doch vor Freude weinen, ich mag dabei lachen oder schmollen, wie ich will. E.«
Wann erhielt er dieses Blatt voll Seele? Und welche Antwort gab seine darauf? –
– Es war am schönsten Abend, der die Ankunft des schönsten Sonntagmorgens und des magischen Nachsommers ansagte – er sah nach der Abendröte, unter welcher Maienthals Berge lagen, und sein Herz schlug ihm schwer – er sah nach der Morgenröte des Vollmonds, die über St. Lüne entglimmte, und seine Sehnsucht nach dorthin wurde unaussprechlich – – er dachte an Klotilde, deren Geburttag morgen einfiel, und ganz natürlich ging er heute – – bloß zu Bette.