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type | fiction |
author | Ernst Weiß |
title | Der Verführer |
publisher | Insel Verlag |
printrun | Erste Auflage |
year | 1980 |
firstpub | 1938 |
corrector | reuters@abc.de |
sender | www.gaga.net |
created | 20101110 |
projectid | f6d04d2a |
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4.
Wenn mich damals noch etwas hätte erschrecken können, wäre es gewiß die Tatsache gewesen, daß ich mich auf dem dreibeinigen Schusterschemel und im Lichte der mit Wasser gefüllten großen Schusterkugel genau so unfähig und unbrauchbar erwies wie bei der Prüfung auf dem Gymnasium, bei der ich im Herbst durchgefallen war. Der Meister gab mir geduldig eine genaue Anleitung, er meinte es gut mit mir. Er war immer noch meinem Vater dankbar, dem er seinen eigenen Erfolg als Handwerker zuschrieb. Mich behandelte er mit Mitleid, (auch hier wieder Mitleid), aber dann gab er mir nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen kein ordentliches Stück Leder mehr in die Hand. Eine der einfachsten Sachen war zum Beispiel, in ein Stück Schaftleder die Ösenlöcher für Herrenschnürstiefel einzuschlagen, auf beiden Seiten fünf Stück. Die Reihe fiel bei mir krumm aus statt gerade, und auf der einen Seite war eine Öse zu viel, auf der anderen eine zu wenig.
Meine Hände wurden rauh, die Fingernägel bekam ich auch nach langem Waschen nicht mehr ganz sauber, der Geruch nach Pech, mit dem die Fäden getränkt werden, verließ mich auch bei Nacht nicht. Dennoch harrte ich aus. Er verlor früher die Geduld als ich. Er gab jetzt überhaupt kein Urteil über meine handwerklichen Fähigkeiten ab, sondern behauptete, er kenne sich in seinen Büchern nicht aus, ich solle sie führen. Diese Arbeit konnte täglich in zwanzig Minuten erledigt werden. Was mit der übrigen Zeit beginnen? Ich blätterte in den neueren Registern, suchte den Namen der unvergessenen schönen Komtesse, fand ihn aber nicht mehr. Vielleicht war sie mit ihren Eltern aus der Stadt fortgezogen oder ihre Lähmung hatte sich so gebessert, daß sie keiner kunstvollen Schuhe mehr bedurfte.
Ich wurde mir selbst zur Last. Meinem Meister nicht minder. Er brauchte einen Lehrling zum Austragen der Schuhe, zum Heizen der Öfen, zum Auskehren der Werkstatt. Ich stand nur im Wege, denn er hatte mir, aus Pietät für meinen Vater, verboten, diese grobe Arbeit zu besorgen, und die Gesellen warfen giftige Blicke auf mich, weil ihnen diese Arbeiten aufgebürdet wurden. Eines Tages weigerten sie sich. Aber der Meister, mir gegenüber immer so weich, so zart, so diskret, herrschte sie an, und sie gehorchten murrend.
Nach einigen Wochen empfing mich der Meister mit einer gewissen Verlegenheit an der Tür. Die Werkstatt war besonders sauber gekehrt, im Ofen prasselte ein schönes Feuer, und auf der Ofenplatte stand ein großer Krug mit Wasser, damit die Gesellen sich mittags die Hände in warmem Wasser waschen konnten. Auf dem Platze, der mir bis jetzt gehört hatte, am Fenster, saß ein blasser, spindeldürrer Junge von vierzehn Jahren. Es war der neue Lehrling, der ›mir zur Seite stehen sollten‹. Er sah zu mir empor, wagte kaum, mit mir zu sprechen. Stumm, mit zitternden Händen knotete er meine schmierige Arbeitsschürze an meinem Rücken fest. Ohne daß man es ihm gezeigt hatte, verstand er die Ösen richtig zu lochen, alles ging ihm von selbst von der Hand, und doch waren der Meister und die Gehilfen einig darin, ihn zu bespötteln, ihn mit und ohne Grund an den abstehenden dünnen hellroten Ohren zu ziehen, und ihn, wenn er ihnen zu langsam war, mit Fußstößen in den flachen Hintern zu größerer Eile anzufeuern.
Mich empörte es. Aber ich hatte nichts zu sagen, denn ich merkte, meine Tage hier waren gezählt. Der Junge fühlte sich glücklich hier trotz allem. Er war das siebente von elf Kindern. Vater, Mutter und die ersten fünf Kinder arbeiteten, teils in Garnspinnereien, teils in anderen Fabriken, ein Bruder diente seine drei Jahre bei der Infanterie ab, eine Zwillingsschwester sollte bereits als ›Kindermädchen gehen‹. Trotz alledem war niemals genug Brot im Hause, und er verschlang, den Mund hinter seiner großen langfingrigen Hand verbergend, die Brocken, die der Meister ihm hinwarf, und dankte ihm voll Herzlichkeit. Er erzählte mir, Vater und Mutter verdienten in der Woche zusammen sehr viel! Nämlich fast ebensoviel, wie wir an einem Tage brauchten. Ich konnte es nicht glauben und fragte abends Marthy. Aber sie war weit entfernt, über die ungerechte Verteilung von Schweiß und Geld sich zu ereifern. Im Gegenteil. Mit geringschätziger Miene warnte sie mich vor solchem Pack, und sie fand es unverschämt von solchen Leuten, sich mit ›unsereinem‹ zu vergleichen. An diesem Tage hatte sie bei meiner Mutter durchgesetzt, daß für den kleinen Leopold einige kleine Ausgaben gemacht wurden. Man müsse durchaus einen großen Schleier für das Kind haben, damit es, wenn es später bei schöner Jahreszeit an die Luft gebracht würde, nicht im Schlafe von Fliegen gestört werde. Ferner müsse es, um nicht von anderen reicheren Kindern abzustechen, ein gesticktes handbreites Windelband haben, und sie hätte es für erniedrigend gehalten, wenn das Kind, das doch aus allen Kleidungsstücken und Schuhen schnell herauswuchs, nicht seine Babyschuhe aus weißem Glacéleder besessen hätte. Diese ihrer Ansicht nach für ein Kind unserer Klasse nötigen Gegenstände kosteten eben soviel, als die Arbeiterfamilie in vierzehn Tagen verdiente, und obwohl wir im Elend waren, lebten wir noch im Überfluß.
Ich habe schon damals die soziale Ungerechtigkeit verstanden. Aber ich hatte sie nur verstanden mit der Vernunft, mein Herz war weit davon entfernt. Die Familie bedeutete mir wenig, die Gesellschaft nichts. Leider! Mein Wille war gelähmt, nach wie vor, und mein Leben schien zu Ende, bevor es richtig begonnen hatte.
Einer unserer Schuldner, derselbe, der mir geraten hatte, ich solle das Mitleid nicht plump mißbrauchen, das mir entgegengebracht wurde, ein wohlgepflegter Biedermann, stets mit einem schön geschnitzten Pfeifchen aus Meerschaum im Munde, in dem eine kleine Zigarre steckte, und eifrig darauf bedacht, daß man ihm den Titel ›Kaiserlicher Rat‹ – (er war Handelsrat, ein Titel ohne Pflichten) – nicht vorenthielt, ließ mich eines Tages kommen. Sein ältester Sohn (er hatte drei Kinder) kam in der Schule schlecht vorwärts. Er meinte aber, Karl sei ein Genie, und er sage das nicht aus äffischer blöder Vaterliebe, denn dieses Genie hindere den armen Sohn am bürgerlichen Vorwärtskommen. Er sei zu groß für die Schule, die Schule sei aber nun einmal nötig. Ich solle ihn zur Reifeprüfung vorbereiten. Ich nahm das Angebot an, ohne nach dem Gehalt zu fragen. Meines Bleibens war ja beim Handwerk nicht. Was hätte ich nicht alles getan, um nicht mit mir allein bleiben zu müssen und – mit ihm ...