type | poem |
author | Gustav Schüler |
title | Balladen und Bilder |
publisher | J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger |
printrun | 1. - 3. Tausend |
year | 1914 |
corrector | Alfred Wey |
sender | www.gaga.net |
created | 20150910 |
projectid | 3da450f6 |
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Die Schlange
Am Kreuzweg hat einer ein Weib gesehn,
Die war schön, wie kaum eine war.
In ihren Augen stand ein Flehn.
Vielringelig floß ihr Haar.
Ein Grauseln kroch den Reiter an.
Und doch, er hat's gemußt, –
Er hob sie auf sein Roß hinan
Und hielt sie an seiner Brust.
So ritten sie heim. Sie ward sein Weib.
Küßte scheu, als wär's seine Magd.
Von keinem Gluthauch ward ihr Leib
Befehdet und befragt.
Sie wußte nicht Freude, wußte nicht Leid,
Dienen war all ihr Sinn.
In wellenloser Bündigkeit
Glitten die Jahre hin.
Dann kam an einem Tag ein Gast,
Der sagte, eh' er ging:
»Weil du eine Schlange zum Weibe hast,
Verfärbte sich mein Ring.«
Den Eheherrn hat es blaß gemacht.
Drauf der andere: »Forsche sie aus
Und lasse für die nächste Nacht
Keinen Tropfen Wassers im Haus.
Die Schlange muß trinken, wenn's Mitternacht ist,
Und hat sie kein Wasser, kläglich schrein. –
Du weißt dann, wem du gepaaret bist.«
Der Mann ward wie zu Stein.
Nun tat er für die nächste Nacht
Alles Wasser fort aus dem Haus.
Von wildem Schreien ist er erwacht,
Eine Schlange schnellte zum Fenster hinaus.
Am anderen Morgen hielt er Gericht:
»Verfluchte, sage, heb an!«
»Ich bin eine Schlange, verbrenne mich nicht,
Sieh es noch drei Tage mit an!
Ich bette mich unter den Rosenstrauch.
Drei Tage gib mir Statt!
Es macht aus meinem Mund kein Hauch
Dir deine Seele matt!«
Sie sank ihm zu Füßen. Ihre Hand
War voll von Staub und Blut.
»Drei Tage gib mir!« Sein Gewand
Netzt ihrer Tränen Flut.
Er stieß sie fort. Sie kroch ihm nach
Und winselte wie ein Tier.
Ihre Stimme rauh in Splitter brach:
»Liebster, drei Tage gib mir!«
Er würgt' ihr den Hals, wie man's Schlangen tut,
Sie konnte nicht mehr schrein! –
Und schleppte sie an eine Glut,
Stieß sie in die Glut hinein.
Wie die Flamme gierig auf sie sprang,
Sah ihr Auge ihn himmlisch an.
Dann quoll durch Qualm und Marter ihr Sang,
Wie kein irdisch Weib singen kann:
»Liebster, noch dreier Tage Geduld,
Und die Schlange war erlöst,
Versunken mit aller Zauberschuld –
Weh, daß du mich verstößt!
Tausend Jahre waren zu Ende gebracht,
Meine Seele war wieder mein!
Was hast du aus deiner Magd gemacht!« –
Und sie fiel in die Glut hinein.